Endlich war er da, der Sommer! Die Zeit des schlechten Wetters war vorbei und das wurde auch mal Zeit!
Seit Monaten musste man sich immer warm anziehen. Dieses ständige An- und Ausziehen machte einfach keinen Spaß mehr. Die letzten Tage kletterte die Temperatur langsam wieder nach oben. Über jedes Grad freute man sich und wollte einfach sein Gesicht nur noch in die Sonne halten. Die Leute schienen schlagartig besser drauf zu sein, die ersten Restaurants hatten bereits ihre Außenbereiche endlich wieder geöffnet.
Es dauerte gar nicht lange und zum ersten Mal wurde die 30 Grad Marke geknackt. Herrlich, dachte ich und zog mir eine meiner kurzen Hosen an und schmiss ein T-Shirt über. Ja, so gefällt mir das. Wenn die Zeit des Sommers bei uns zu Lande nur nicht immer so kurz wäre.
Ich schaute auf die Uhr, es war 20:22 Uhr, noch eine ganze Weile hell draußen. Ist das schön. Nun wurde es aber Zeit, mich auf den Weg zu machen um meine fleißige und sportliche Frau vom Yoga abzuholen.
Ich zog die Tür hinter mir zu und maschierte Richtung Fitness Center. Ein paar Schritte gegangen lachte mich der erster E-Scooter an. Lust hatte ich natürlich die Strecke elektrisch zurückzulegen, aber zu Fuß ist es natürlich generell gesünder und man spart auch noch Geld.
Also weiter ging es, schließlich wollte ich pünktlich sein. Ich schaute mir rechts und links die an mir vorbeiziehenden Menschen an. Alle waren an dem Tag leicht gekleidet. Schließlich war es zu dieser Zeit immer noch enorm warm oder fast heiß.
Nach einer Weile fixierten meine Augen plötzlich ganz automatisch zwei Beine, die ein ganzes Stück weiter vor mir gingen. Plötzlich waren sie in der Menge an Passanten vor mir wieder verschwunden. Was war denn das, dachte ich und meine Augen schauten erneut nach vorne.
Da waren sie auf einmal wieder. Nicht, dass ich nach ihnen gesucht hätte. Es war eher, sagen wir mal, anatomische Neugier.
Da ich recht zügig unterwegs war und diese Person anscheinend nicht, kam ich langsam näher und näher.
Es war ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren, einer kurzen Jeans und weißen Sneakern. Aus der Jeans schauten zwei gebräunte, trainierte, aber nicht zu trainierte, sehr wohl geformte Beine heraus. Sie sahen so glatt wie intensiv geschliffenes Holz aus, nicht zu dick, nicht zu dünn, nicht zu lang oder kurz, eher so, als wären sie aus einer Modezeitschrift mit der neuesten Version von Photoshop künstlich bearbeitet worden.
Nun ist es nicht so, als würde ich im Alltag nach schönen Frauen oder Beinen suchen. Aber wenn ich in einem Restaurant sitze, während ich auf mein saftiges Steak warte und der Kellner mit einem echten Wiener Schnitzel auf dem Teller an mir vorbei geht, schaue ich ja auch hinterher und das Steak ist deshalb nicht sauer auf mich.
Ich kam nach kurzer Zeit der jungen Frau immer näher, als diese plötzlich abrupt stehenblieb, so dass ich fast auf sie rauf gelaufen wäre. Die Ampel vor uns war gerade rot geworden. Ich ging ein Stück zur Seite, schielte nach links und wieder zurück. Nun überlegte ich, was kann ich tun? Kann ich ihr sagen, dass sie wirklich außergewöhnlich schöne Beine hat. Wie sollte ich das sagen, ohne anzüglich zu sein? Würde sie mir eine scheuern, sich wegdrehen oder gar nicht reagieren? Würde sie denken, ich wolle mit ihr flirten, sie irgendwie anmachen? Sie hätte ja „fast“ meine Tochter sein können. Plötzlich traute ich mich gar nicht mehr, sie überhaupt noch einmal anzuschauen. Vielleicht hält sie mich für einen Sugar-Daddy? Aber nichts dergleichen stimmte ja.
Ich bin in einer sehr glücklichen Beziehung mit der für mich schönsten Frau der Welt. Also warum darf man einem anderen Menschen kein Kompliment machen, das einfach aus dem Herzen kommt, ohne wenn und aber.
Ich überlegte erneut. Vielleicht würde sie sich ja darüber freuen. Natürlich wird sie sich dessen bewusst sein, aber vielleicht traut sich ja auch kein anderer, ihr ein Kompliment zu machen. Darf man das eigentlich generell noch?
In der Firma kann es leicht als sexuelle Belästigung dargestellt werden, da würde man sich hüten, einer Kollegin ein Kompliment zu machen. Hier sind ja eine Menge anderer Menschen unterwegs, sie könnte sich auf keinen Fall bedrängt fühlen.
Als ich so überlegte wurde es grün und sie blieb noch einen kurzen Moment stehen, sodass ich an ihr vorbei ging. Ich drehte mich auch nicht mehr um und ging weiter, als hätte ich sie nie gesehen.
Traurig, dachte ich. Wir leben in einer Welt, in der man anderen Menschen keine Komplimente mehr machen kann, ohne vorher ganz genau das Für- und Wider abzuwägen. Ist es dass, was uns Menschen ausmacht? Sieht so eine moderne Gesellschaft aus?
Darf eine Frau einem Mann ein Kompliment machen, umgekehrt aber nur mit vielen Auflagen? Ich ging weiter und freute mich auf meine Frau, die mir kurz vor dem Ziel bereits entgegen kam.
Toll siehst Du aus, und meinte es genau so, und das aus tiefsten Herzen. Darf ich das sagen, grinste ich sie an?
Sie nahm mich in den Arm und schenkte mir ein ganz besonderes Lächeln. Wie schön, es gibt Menschen, die sich über ein ehrlich gemeintes Kompliment freuen.
Vielleicht hätte das junge Mädchen sich ebenfalls darüber gefreut, ich werde es nie erfahren.